Geheime Pfade durch Berlin
Gartenlauben im Niemandsland, Geisterstädte im Plänterwald und uralte Likörfabriken im Keller: Reporter Dirk Engelhardt fährt zu den geheimen Orten Berlins, die nicht im Reiseführer stehen und beschreibt diese auf seinem Blog www.dergutereisende.com.
Von Nord nach Süd sind es 38 Kilometer, von Westen nach Osten gar 45 Kilometer. Berlin ist, von der Fläche her gesehen, eine der größten Städte der Welt. Und dazu platt wie eine Flunder. Deshalb ist ein motorisierter Untersatz ideal für eine Entdeckungstour. Zum Beispiel die Ape, sozusagen eine Vespa mit vier Sitzen, die sich neuerdings tageweise mieten lässt. Wenn das Wetter es zulässt, kann man sogar das Verdeck aufschlagen.
Von der Mauer ist zum Leidwesen der Touristen praktisch nichts mehr übrig, bis auf eine steinerne Linie, die sich bisweilen quer über asphaltierte Straßen zieht. Und natürlich die East Side Gallery, Pflichtpunkt jeder touristischen Visite. Doch nur fünf Minuten weiter, auf der Kreuzberger Seite der Spree (nahe U-Bahnhof Schlesisches Tor), gibt es ein echtes Mauer-Kuriosum mitten auf einer verkehrsarmen Kreuzung zu entdecken, nämlich die Hütte von Osman Kalin. Vor 21 Jahren hatte der Türke hier im Niemandsland im Schatten der Mauer einen Gemüsegarten angelegt. Aus alten Kleiderschranktüren, Betten und Bauschutt baute er eine windschiefe, zweistöckige Hütte, die auch in den Favelas von Rio de Janeiro ein gutes Bild abgeben würde. Sogar ein Baum wächst durch das Häuschen, und dichter Efeu tut sein bestes, um Osmans Werk biologisch zu festigen. Wenn man Glück hat, trifft man Osman beim herumkramen vor seiner Hütte. Ein Foto von ihm und seiner Hütte? So naiv ist Osman nicht mehr – 50 Euro möchte er, schließlich stand er schon im Londoner Guardian.
Vom Bethaniendamm geht es über die Schlesische Straße zum Treptower Park. Diese Strecke am Flussufer, die zu einem der mysteriösesten Plätze Berlins führt, ist auch gut zu Fuß machbar. Ziel ist der stillgelegte Vergnügungspark im Plänterwald. Von ferne ragt das Riesenrad, das sich schon Jahre nicht mehr dreht, aus dem Wald. 1969 eröffnete die DDR hier ihren größten Vergnügungspark. Der „Kulturpark“ zog jährlich 1,7 Millionen Besucher an und bekam von den Berlinern den Kosenamen „Kulti“. Bis vor 13 Jahren lockten Wasserrutschen, eine Park-Eisenbahn, Zirkus, Achterbahn und „Carmens Hunderevue“ noch Gäste an. Jetzt wachsen junge Birken zwischen umgekippten Dinosauriern, bemooste weiße Boote in Schwanenform warten auf die Wasserlassung, und die verrottete Achterbahn aus Holz gäbe eine gute Kulisse für einen Horrorfilm. Tatsächlich wohnen auf dem umzäunten Gelände, in den Häusern des Westerndorfes, die letzten Rummelbetreiber. Und die gehen mit Kampfhunden abends Streife, um ihr „Territorium“ abzusichern. Man belässt es hier also besser bei Blicken über den hohen Zaun – gespenstisch wirkt die Szenerie dieser krautigen Geisterstadt auch von ferne.
Wenn man die Tour sonntags unternimmt, empfiehlt sich ein Abstecher nach Hellersdorf. Dort lässt sich ansehen, was die Wohnungsgesellschaften aus den vielen Plattenbauten, die nach der Wende einen erheblichen Leerstand aufwiesen, gemacht haben. Mit Farbe und neuen Balkonen sind die Ost-Platten kaum noch wiederzuerkennen. Wäre da nicht die Museumswohnung in der Nähe des U-Bahnhofs Cottbusser Platz. Jeden Sonntagnachmittag steht hier die Tür für zwei Stunden offen, und man kann eine Zeitreise in der DDR unternehmen. Eine komplette Drei-Raum-Wohnung mit 60 Quadratmetern wurde in ihrem Ursprungszustand belassen. In der Schrankwand der VEB Möbelwerke Schleiz (Preis in DDR-Mark: 4000 Mark) finden sich alte Illustrierte und Schnapsgläser, und auch ein Fernseher der DDR-Marke RFT Staßfurt (Kaufpreis damals: 4200 DDR-Mark). Eine solche Wohnung – hier handelt es sich um den Typ WBS70 – wurde damals in der Rekordzeit von 18 Stunden aufgebaut. Die Blümchentapete ist noch, wie es damals üblich war, direkt auf die Betonwand aufgeklebt. Insgesamt gibt es in Hellersdorf 42.000 solcher Wohnungen. Wer den Film „Goodbye Lenin“ gesehen hat, wird hier so einiges wiedererkennen!
Zeit für ein kühles Pils, oder vielleicht ein Glas Obstwein. Von Hellersdorf nach Kreuzberg 61 – größer kann der Gegensatz kaum sein. Im Gegensatz zu Kreuzberg 36, wo früher die Hausbesetzer tobten, ist Kreuzberg 61 der eher bürgerliche „Kiez“. Vom alten Kreuzberger „Trampelpfad“ an der Yorckstrasse, wo früher eine Kneipe an der anderen lag, ist nur noch das „Leydicke“ übrig. Dabei ist die Kneipe ein echtes Unikat unter den tausenden Berliner Abfüllstellen. Nur schwerlich wird sich eine andere Kneipe finden, in der ein Zigarrettenautomat hängt, an dem ein Päckchen der längst vergangenen Berliner Marke Garbaty 20 Pfennig kostet, von der Wandfarbe ganz zu schweigen. Die wurde mutmaßlich seit dem Jahr 1877 nicht erneuert, und glänzt heute in einem speckigen, halb abgeblätterten ockerbraun, welches die Ablagerungen unzähliger verrauchter Kneipennächte konserviert. „Wir machen eben nicht jeden Trend mit“, kommentiert Kneipier Raimon Marquardt die Frage auf die Renovierung der Inneneinrichtung mit original Berliner Schnauze. „Gegründet wurde das „Leydicke“ im Jahr 1877 von Max und Emil Leydicke als Likörfabrik und Probierstube. Wir wollen eigentlich keine Bierkneipe sein“, sagt Marquardt, und dreht die Country-Musik, die aus einem alten Kassettenrecorder dudelt, ein bisschen leiser. „Aber die Berliner…“
Aus Altberliner Zeiten ab ins dritte Jahrtausend: dorthin führt ein Besuch des „Solar“. Ein verglaster Aufzug bringt Besucher zur Lounge in den 16. Stock. Hier oben bietet sich ein Blick über ein schier endloses Meer aus Stein mit vielen orangefarbenen und gelben Lichtpunkten in der Dämmerung.
Angestammten Berlinern ist die Aussichtsetage in dem hässlichen Plattenbau direkt am Anhalter Bahnhof vielleicht noch bekannt als Berliner Fenster. Das ging hinaus zu den Orten des Schreckens: Mauer, Todesstreifen, Wachtürme, Potsdamer Platz. Angeblich hat die amerikanische CIA diese Plattform mitfinanziert – das Haus war ausgestattet mit von außen verspiegelten Fenstern, damit die ostdeutschen Grenzwächter nicht sehen konnten, wer sich darin aufhält. Wer nicht erkannt werden wollte, fuhr auch nicht mit dem Außenaufzug hinauf, sondern benutzte einen Aufzug im Inneren des Hauses, der sogar drei Ausgänge hatte.
Als der Berliner Partyveranstalter Rik Verweyen von dieser „Location“ Wind bekam, traute er zunächst seinen Ohren nicht: ein zweistöckiges Penthouse mit Außenaufzug, Panoramafenstern und einer glamourösen Wendeltreppe, die beide Stockwerke verbindet, steht seit Jahren leer! Dabei ist „Dinner with a view“ derzeit der Metropolentrend – zum Beispiel in der Monkey Bar mit Blick auf den Zoo oder im „Weekend“ am Alexanderplatz.
Ungewöhnlicher Luxus für Berlin: Die Garderobe nimmt ein extra angestellter Garderobier bereits im Erdgeschoss ab. Unentgeltlich. Daran müssen sich die praktisch veranlagten Berliner erst gewöhnen – noch zieren lila Goretex-Jacken oder braune Parkas die bequemen, weiß gepolsterten Designerstühle des Restaurants.
Warum im Hotel schlafen, wenn man sich auch in einen kuscheligen Wohnwagen betten kann? Dazu muss man nicht mehr auf einen Campingplatz an den Stadtrand fahren, man kann neuerdings in einem Gewerbehof im trendigen Neukölln in ausrangierten Wohnwagen übernachten. Die Idee dazu hatten Silke Lorenzen und Sarah Vollmer, die die Oldtimer mit viel Liebe restaurierten. Jeder hat einen Namen, zum Beispiel der „Herzensbrecher“, ein Nagetusch aus dem Jahr 1959. Die Wohnwagen sind in einem Loft untergestellt, so dass man keine Angst vor Regen zu haben braucht.
Dirk Engelhardt mit seinem Blog www.dergutereisende.com
Adressen:
Leydicke
Mansteinstr. 4
10783 Berlin
Tel. (030) 216 29 73
www.leydicke.com
Museumswohnung
Hellersdorfer Str. 179
geöffnet Sonntag von 14 bis 16 Uhr
Eintritt frei
Telefon (0151) 16 11 44 40
Solar
Stresemannst. 76
Kreuzberg
Tel. (0163) 765 27 00
www.solarberlin.com
Hüttenpalast
Hobrechtstr. 66
12047 Berlin
Telefon (030) 37 30 58 06
www.huettenpalast.de
Ape Verleih:
www.stadtrundfahrt-berlin.info
Berlin mit dem Käfer:
www.oldie-kaefer-tour.de
Berlin mit dem Trabi:
www.trabi-safari.de
Berlin mit der Vespa:
www.vespa-verleih.de